Hanel,P.(1991): "Lernen durch Lehren, oder Schüler übernehmen Lehrerfunktionen", In: Staatsinstitut für die Ausbildung der Lehrer an Realschulen (Hg)(1991), RL-Information, Heft 4, München. 31-34 . Der Aufsatz enthält im htm-Format keine Anmerkungen. Diese sind jedoch vollständig  in der Winword 6.0 / PDF-Datei vorhanden (hanel.doc; 31 kB, PDF: hanel.pdf, 32 kB).


Paul Hanel

Lernen durch Lehren,

oder

Schüler übernehmen Lehrfunktionen

 

Die Methode „Lernen durch Lehren" wurde Anfang der achtziger Jahre von Dr. phil. Jean-Pol Martin, Fachdidaktiker für Französisch an der Universität Eichstätt, entwickelt. Seit jeher führt er selbst Französischklassen an einem Gymnasium nach dieser Methode, so daß seine Erkenntnisse aus einer Langzeit-studie in der Unterrichtspraxis resultieren und in Form von Informationsblättern didaktischen Briefen sowie Video-Kassetten vorliegen. Daneben hat Martin ein Kontaktnetz geschaffen, dem ca. 400 Lehrkräfte im In- und Ausland angehören.

Regelmäßige Treffen ermöglichen den Vergleich und die Erprobung entsprechender Techniken in der Unterrichtspraxis sowie einen regen Erfahrungsaustausch, auf den größter Wert gelegt wird. In dieses Kontaktnetz ist auch der Verfasser dieses Beitrags einbezogen.

Hier soll das Modell „Lernen durch Lehren" knapp vorgestellt werden; die Informationen sind weitgehend den zahlreichen Rundschreiben sowie didaktischen Briefen entnommen.

Zunächst wurde die Methode „Lernen durch Lehren" für den Fremdsprachenunterricht - insbesondere für Französisch - konzipiert, sie läßt sich jedoch grundsätzlich auf alle anderen Fächer in allen Schularten übertragen. Mehrere entsprechende Unterrichtsversuche laufen in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch. Als Identifikationsmerkmal für diese Methode stellt Martin heraus.

„Wenn Schüler einen Lernstoffabschnitt selbstständig erschließen und ihren Mitschülern vorstellen, wenn sie ferner prüfen, ob die Informationen wirklich angekommen sind, und wenn sie schließlich durch geeignete Übungen dafür sorgen, daß der neue Stoff verinnerlicht wird, dann entspricht dies (idealtypisch) der Methode „Lernen durch Lehren"1.

Nach Ansicht Jean-Paul Martins ist diese Methode für alle Vermittlungstechniken offen. Kriterium ist, daß die Lernprozesse allein durch Schüler eingeleitet und kontrolliert werden. Einschränkend muß jedoch gesagt werden, daß diese Forderung nicht durchgehend zu erfüllen sein wird, denn der Lehrer muß immer wieder eingreifen, um zu präzisieren, zu klären, zusammenzufassen. Bei Zeitknappheit oder zu komplexen Stoffen muß er auch einmal selbst Lehrinhalte vorstellen.2

Martin hebt hervor: „Die Methode ‘Lernen durch Lehren’ läßt sich ohne besondere Genehmigung, mit den üblichen Lehrmaterialien und Stundenplänen und an allen Schulen verwenden. Damit spricht sie besonders Lehrer an, die an einer Regelschule unterrichten und trotzdem alternative Verfahren anwenden wollen".3

Begründung der Methode

Wenn es eine primäre Aufgabe der Schule ist, die Schüler „zu selbstständigem Urteil und eigenverantwortlichem Handeln" sowie „zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft zu befähigen"4 , dann sind nach Martin5 in einer Gesellschaft, deren Komplexität und Unüberschaubarkeit zunehmen, vielfältige Kompetenzen erforderlich - bloße Wissensvermittlung und Einübung von Fertigkeiten reichen jedenfalls nicht aus, wenn junge Menschen vorbereitet bzw. befähigt werden sollen, diese Aufgaben zu bewältigen, ihre Umwelt zu gestalten.

Die Methode „Lernen durch Lehren" ermöglicht es dem Schüler, Rezeptivität und Reaktivität, wie sie im traditionellen Unterricht üblich sind, zu überwinden und durch die Übernahme von Lehrfunktionen den Unterricht weitgehend aktiv selbst zu gestalten.

Herkömmliche Unterrichtsprinzipien, wie z.B. die Grundsätze der Individualisierung, der Gemeinschaftspflege, der Entwicklungsgemäßheit, der Selbsttätigkeit, der Lebens- und Gegenwartsnähe, der Toleranz und dgl., werden bei dieser Methode in besonderer Weise berücksichtigt.

Die lerntheoretische Fundierung stützt Martin zunächst auf den Informationsverarbeitungsansatz6 ; durch die Einbeziehung zusätzlicher grundlegender Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie7 läßt sich das Modell entsprechend erweitern.

Die Methode „Lernen durch Lehren" ist nichts völlig Neues

Sporadische Beispiele aus der Geschichte der Pädagogik zeigen, daß die Grundidee dieser Methode seit der Reformpädagogik lebendig ist, wenngleich die pädagogischen Intentionen jeweils anders akzentuiert wurden:

Hugo Gaudig (1860-1932) fordert 1922, „den Schüler aus dem Passivum in das Aktivum zu übersetzen", denn er betrachtet das „Handeln des Zöglings" als das Wichtigste; daraus folgert er, die Form des Unterrichts müsse neu bestimmt werden.

Der Pädagogik Peter Petersens (1884-1952) liegt die Idee zugrunde, der Lehrer solle bei der schulischen Arbeit völlig in den Hintergrund treten. „Er bietet den Lehrstoff nicht dar, er entwickelt nicht und prägt nicht ein, sondern er gibt nur Anweisungen, er beobachtet den Schüler und berät ihn, wenn er fragt...".8 Schüler müssen sich Mittel und Wege je nach Art des Stoffes selber überlegen und gegebenenfalls die Arbeit innerhalb der Gruppe aufteilen.

In der wenig gegliederten oder ungeteilten Landschule erwies sich der Einsatz von Schülern als „Helfer des Lehrers" (Helfersystem) unumgänglich.9 „Als Helfer kommen tüchtige Schüler des gleichen oder eines älteren Arbeitsverbandes in Frage ... Sind sie richtig eingeschult, dann vermögen sie den Lehrer zu entlasten".10

In der heute so bedeutsamen Sozialform des Gruppenunterrichts sollen soziale Verhaltensweisen entwickelt und geübt werden, wie z.B. Helfen und Helfenlassen, gruppeninterne Arbeitsteilung, Kooperation und dgl. mehr. In diesem Zusammenhang kann das Verfahren „Lernen durch Lehren" ein besonderes Gewicht erhalten.

 

Zur Praxis der Methode

In Erfahrungsberichten junger Kollegen, die diese Methode in der Schulpraxis erprobt haben, wird darauf hingewiesen, daß es zur Durchführung erforderlich sei, die Tische im Halbkreis oder in U-Form anzuordnen. Der Schüler, der den Unterricht übernimmt, sitzt vor seinen Klassenkameraden (auch mehrere Schüler können gemeinsam den Unterricht gestalten). Der Lehrer kann sich in die Gruppe der Schüler eingliedern und so das Geschehen aus dieser Perspektive mitverfolgen.

Die Lerngruppe sollte sinnvollerweise zwanzig Schüler nicht übersteigen; diese müssen in der Lage sein, diszipliniert und kooperativ zu arbeiten. Die Unterrichtsgestaltung durch Schüler entwickelt sich nicht nur aus der Spontaneität heraus, vielmehr erteilt die Lehrkraft Arbeitsaufträge frühzeitig, unterstützt die „unterrichtenden" Schüler bei ihrer intensiven Vorbereitung und korrigiert ihre schriftlichen Vorlagen. Die Schüler müssen auch mit dem Einsatz von Medien vertraut gemacht werden.

Wie bei der Einführung bestimmter Sozialformen des Unterrichts sollten die Schüler auch bei dieser Methode langsam in das für sie neue Verfahren eingeführt werden, insbesondere, wenn ansonsten weitgehend Frontalunterricht vorherrscht. Die Schüler gestalten Teile des Stundenablaufs, z.B. Wiederholen der Schwerpunkte der vorausgegangenen Stunde, Leiten der Übungsphase oder Diskussionen, Besprechen der mit dem Lehrer vereinbarten Hausaufgaben, Organisieren kleiner Rollenspiele und dgl. mehr. Somit übernehmen die Schüler Schritt für Schritt Funktionen des Lehrers.

Zur Einführung eines neuen Textes im Fremdsprachenunterricht schlägt Martin11 in diesem Zusammenhang folgende Schritte vor:

1. Bildung der Arbeitsgruppen

2. Austeilen des Textes

3. Vorbereitung der Textpräsentationen in den einzelnen Gruppen

3.1 Vorbereitung der Wortschatzeinführung

3.2 Vorbereitung des Vorlesens

3.3 Vorbereitung der Kontrollfragen

4. Präsentation im Plenum

Dem Lehrer obliegt es, gegebenenfalls am Ende der Präsentationen selbst präzisierend, strukturierend oder zusammenfassend einzugreifen. Er übernimmt auch die Initiative, wenn der Unterrichtsablauf ins Stocken gerät, wenn sich geringfügige Korrekturen oder Ergänzungen als erforderlich erweisen.

Urteile bzw. Erfahrungen junger Kollegen, die in der Schulpraxis nach dieser Methode arbeiten

  • R. und A. Tausch mußten noch konstatieren, daß in unserem herkömmlichen (Frontal-) Unterricht der Schüler kaum zu Wort kommt; nach der hier vorgeschlagenen Methode stammen bis zu 80 % der Äußerungen von Schülern.
  • Stoffliche Schwierigkeiten werden kindgemäß aus der Sicht der Schüler zu lösen versucht.
  • Die Erfahrung zeigt, daß man Stoffbereiche erst dann beherrscht, wenn man sie anderen erklären kann; lehrende Schüler lernen selbst sehr viel dabei, sie setzen sich intensiver und vielseitiger mit dem Stoff auseinander.
  • Es fällt den Schülern vielfach leichter, Klassenkameraden zu fragen, wenn etwas nicht verstanden wurde oder einer zusätzlichen Erklärung bedarf, während sie dem Lehrer gegenüber oft Hemmungen zeigen.
  • Leistungsschwache Schüler gewinnen durch ihre vorübergehende Lehrerrolle an Selbstbewußtsein und Ansehen innerhalb der Klasse.
  • Da die Schüler das Unterrichtsgeschehen aktiv mitgestalten, fühlen sie sich stärker angesprochen und arbeiten besser mit.
  • Neben dem größeren Schüler-engagement wird der soziale Effekt besonders hervorgehoben: stärkerer Zusammenhalt und gegenseitige Hilfestellung.
  • Es wird ein weites Feld für soziales Lernen eröffnet, da die Schüler in unterschiedlichen Rollen vielseitig Kontakt aufnehmen und Kommunikation üben können.
  • Relativ schnell entwickelt sich eine sehr positive und entspannte Beziehung der Schüler untereinander und auch zu den Lehrern. Die herkömmliche Trennung Lehrende-Lernende wird überwunden.
  • Wenn sich der Schüler als eigenverantwortlich erlebt und erkennt, daß er den Anforderungen gewachsen ist, wird ihm die Arbeit auch Spaß machen (intrinsische Motivation).
  • Die nach dieser Methode verlangten Schüleraktivitäten sind energieaufwendiger, weil sie komplexer, kreativer und dynamischer sind. Darüber hinaus wird ein hohes Maß an Selbstdisziplin vorausgesetzt.
  • Es wird empfohlen, nicht die gesamte neue Methode und ihr Ziel am Anfang theoretisch vorzustellen, da sonst leicht Ängste und falsche Erwartungen aufgebaut werden können. Nach jedem Schritt sollten sich die Schüler der eingetretenen Veränderungen bewußt werden.
  • Als günstig erweist es sich, wenn die Lehrer fächerübergreifend kooperativ zusammenarbeiten.
  • Aus zahlreichen Schülerbefragungen geht hervor, daß diese Methode von den Betroffenen selbst weitgehend positiv beurteilt wird.

 

Probleme bzw. Kritik an der Methode

Von Praktikern, die nach dieser Methode arbeiten, werden auch Probleme aufgezeigt: 

  • Oft stehen enormer Aktions- und Zeitaufwand in keinem Verhältnis zu den vermittelten Inhalten.
  • Verbindliche Lehrpläne müssen eingehalten werden, so daß ein Zeitdruck entsteht.
  • Die Selbstdisziplin einzelner Schüler oder Gruppen läßt zu wünschen übrig.
  • Als schwierig bzw. nicht möglich erweist es sich, Neueinführungen komplizierter Stoffe Schülern anzuvertrauen, wie z.B. „Gebrauch des Konjunktivs bei der indirekten Rede".
  • Vielfach fällt es insbesondere älteren Lehrern nicht leicht, Eigenaktivität und Eigenverantwortung an Schüler abzutreten.
  • Die Vorbereitungen - auch in Zusammenarbeit mit Schülergruppen - sind ungleich größer bzw. aufwendiger als bei der herkömmlichen Unterrichtspraxis.

Die Methode „Lernen durch Lehren" bringt eine Reihe von interessanten Aspekten im Rahmen eines handlungsorientierten Ansatzes der Didaktik und kann - bei entsprechenden Voraussetzungen - eine wesentliche Bereicherung des Unterrichts darstellen. Als ausschließliche oder beherrschende Methode müßte sie jedoch auch auf grundsätzliche Bedenken stoßen.